Anonymisierte Patientendaten – eine politische Leidensgeschichte

Anonymisierte Patientendaten sind eine wichtige Grundlage für die Forschung in Hochschulen und Industrie. Bundesrat, Bundesamt für Gesundheit und das Staatssekretariat für Bildung, Forschung und Innovation handeln leider nicht entschlossen genug, wenn es darum geht, die Digitalisierung von Gesundheitsdaten voranzutreiben. Die Folgen für die forschende Industrie und die Hochschulen der Schweiz sind gravierend. Lesen Sie nachfolgend den vollständigen Beitrag von Dr. iur. Christoph Eymann, alt Nationalrat LDP Basel-Stadt, erstmals erschienen im «tribune» 04/2021.

Von Philippe Hofstetter

Von Dr. Christoph Eymann, alt Nationalrat LDP BS

Seit längerer Zeit ist bekannt, dass wirksamere Heilmittel und Therapien zum Wohle von Patientinnen und Patienten zur Verfügung stehen könnten, wenn der Forschung eine grössere Menge Datenmaterial über Krankheiten und ihren Verlauf zur Verfügung stünden. Wir wissen, dass es verschiedene Erscheinungsformen von Krebs und anderen Krankheiten gibt. Nicht für jede Variante eignet sich jedoch dasselbe Medikament gleich wirkungsvoll. Es wäre sinnvoll, «Feinjustierungen» vornehmen zu können, um gezielter auf die individuelle Ausprägungungsform einer Krankheit reagieren zu können. Um das wirksamste Heilmittel herstellen und anwenden zu können, braucht es also eine Vielzahl von Patientendaten. Nur so kann eine individuelle Behandlung der Erkrankten erfolgen.

 

Schweiz hinkt hinterher

Im Gegensatz zu mehreren anderen Ländern fehlt es in der Schweiz an derartigen Patientendaten. Dabei ist unbestritten, dass die allgemeine humanmedizinische Forschung auf der Basis solcher Daten erfolgreicher sein kann. Unerlässlich sind anonymisierte Gesundheitsdaten auch für den Erhalt der Konkurrenzfähigkeit der Pharma-Industrie. In einigen Herkunftsländern bedeutender Pharma-Firmen herrschen vorteilhaftere Rahmenbedingungen, auch was die Verfügbarkeit von Patientendaten betrifft. Die Schweiz ist hinsichtlich der Digitalisierung des Gesundheitssystems im Hintertreffen, es besteht Nachholbedarf. Internationale Rankings (Digital Health-Index Bertelsmann-Stiftung) zeigen dies ebenso wie die jüngsten Erfahrungen mit der Pandemie. Ein funktionierendes Gesundheitsdatensystem erhöht die Effizienz und die Qualität der Gesundheitsversorgung, liefert die unverzichtbare Datenbasis für Forschung in Hochschulen und in der Industrie, steigert die Innovationskraft im Inland und unterstützt die Politik bei einer ihrer Kernaufgaben, der Gewährleistung der Volksgesundheit. Während diese Gründe für die Beschaffung und Zurverfügungstellung von Patientendaten im Ausland offensichtlich zu Erfolgen führt, zögern in der Schweiz das zuständige Bundesamt für Gesundheit ebenso wie das Staatssekretariat für Bildung, Forschung und Innovation – und leider auch der Bundesrat.

Zwei politische Vorstösse

Im Jahre 2018 habe ich eine Motion «Schaffung einer modernen Dateninfrastruktur mit strukturierten Patientendaten zur Förderung der Humanforschung» eingereicht. Der Bundesrat beantragte Ablehnung der Motion. Die Begründung war etwas dünn; es wurde auf bereits getätigte Investitionen hingewiesen und behauptet, im internationalen Vergleich sei die Schweizer Forschung im Bereich der personalisierten Medizin gut positioniert. Fachleute aus der Forschung widersprechen jedoch dieser Aussage. Schlicht unzutreffend ist der letzte Satz der Beantwortung des Vorstosses: «Die Anliegen der Motion sind vor diesem Hintergrund bereits erfüllt.» In der Politik braucht es Durchhaltebereitschaft und -vermögen. Mit Blick auf die Wichtigkeit des Themas habe ich nachgestossen und 2019 nach dem «Zeitpunkt der Verfügbarkeit von Patientendaten zur Förderung der Humanforschung durch Schweizer Firmen und Hochschulen» gefragt. Vom Bundesrat kamen erneut Erklärungen, was bereits geleistet worden sei und noch geleistet werde. Neu und deutlich wurde darauf hingewiesen, dass eine kommerzielle Nutzung der Daten ausgeschlossen sei. Unbefriedigend nicht nur diese Erklärung; auch die angegebene Zeitachse bis zur Realisierung einer sicheren IT-Infrastruktur ist unverständlich lang; von 2017 bis 2020 sei man daran, diese Voraussetzung zu schaffen.

Ein dritter Anlauf

Da noch immer keine Resultate erkennbar waren, wie die Forschung in Schweizer Hochschulen und Firmen durch digitalisierte Gesundheitsdaten unterstützt werden kann, fragte ich 2020, ob zur Bereitstellung von anonymisierten Patientendaten die Erkenntnisse der Corona-Bekämpfung genutzt werden könnten. Es ging besonders darum, darauf hinzuweisen, wie die enge Zusammenarbeit zwischen staatlichen Behörden, Spitälern, Hochschulen und der Pharma-Industrie rasch zu Erfolgen in der Pandemie-Bekämpfung geführt hat. Diese neuen Allianzen zur Bekämpfung einer Bedrohung könnten beispielhaft sein für die Ermöglichung von Forschungserfolgen im Inland zugunsten kranker Menschen weltweit. Noch einmal verwies der Bundesrat auf seine frühere Antwort, wonach die Daten für die Nutzung in der Privatindustrie nicht zur Verfügung stehen werden.

Motion «Mehrwert für Forschung»

Mit einer Korrektur der Strategie, in absehbarer Zeit in der Schweiz über digitalisierte Gesundheitsdaten für die Forschung verfügen zu können, die auch wirtschaftlich genutzt werden können, soll nun versucht werden, das Ziel doch noch zu erreichen. So hat die Kommission für Wissenschaft, Bildung und Kultur des Nationalrats (WBK-N) im Frühjahr 2021 eine Kommissionsmotion mit dem Titel «Mehrwert für Forschung und Gesellschaft durch datenbasierte Ökosysteme im Gesundheitswesen» eingereicht. Gefordert wird das Einsetzen einer multidisziplinären Arbeitsgruppe, um einen Bericht über die verantwortungsvolle Erhebung und Nutzung von Gesundheitsdaten und die Anforderungen ein offenes Gesundheitsdaten-Ökosystem zu erstellen. Darin vertreten sein sollen Hochschulforschung, Industrie, Gesundheitswesen, Technologie, Gesellschaft und Datenschutz. Im Weiteren sollen folgende Themen bearbeitet werden: Anforderungen an die Infrastruktur eines Gesundheitsdaten-Ökosystems hinsichtlich Datenzugang, Datenerhebung, Datenschutz, Interoperabilität, ethischer Grundsätze und weiterer Aspekte. Die gegen den Willen des Bundesrats von der WBK einstimmig verabschiedete Motion wurde im Juni 2021 vom Nationalrat angenommen und dem Ständerat überwiesen. Es ist zu hoffen, dass dieser neuerliche Vorstoss, der mit Blick auf die Forderung der Erarbeitung von Grundlagen einen Schritt hinter direkter formulierte politische Begehren zurückgeht, Erfolg haben wird. Es wäre dringend nötig, wenn wir nicht – einmal mehr – beklagen wollen, das Ausland überhole uns in Bereichen, in denen unser Land führend war.

Dr. iur. Christoph Eymann

alt Nationalrat LDP Basel-Stadt

Christoph Eymann ist Mitglied der Liberal-Demokratischen Partei des Kantons Basel-Stadt. Von 1984 bis 2001 war der promovierte Jurist Direktor des Gewerbeverbands Basel-Stadt. Ab 1991 bis 2001 sowie von 2015 bis September 2021 vertrat er den Kanton Basel-Stadt im Nationalrat und war Mitglied dessen Kommission für Wissenschaft, Bildung und Kultur. Dazwischen stand er von 2001 – 2017 als Mitglied des Regierungsrats dem baselstädtischen Erziehungsdepartement vor. Seit 2019 präsidiert er die Schweizerische Konferenz für Sozialhilfe SKOS.